2. Die Aussichtist herrlich, die Luft duftet nach Feigen undJasmin, der Himmel
ist blau, das Meer türkis. Es sind etwas über dreissig Grad. Ich weiss ummein
Glück. Ichatme frei.
REISEN
IST KOMPLIZIERT
Der Weg zur Inselist ein echter Hindernislauf. Die CovidCert-App
herunterladen. Einfach. Klappt. Dochdannbedauert die Gesundheitsdirektion
meines Kantons, dassmein Impfzertifikatstorniert wurde. Aber ich habe doch
meine zwei Dosen Pfizer im letzten Mai erhalten! Das Problemist mein
mittlerer Name, der in einem Dokumentstehtundin einem anderen nicht.
Kurzvor meinem Abflug zeigen sich die zuständigenBehördenhilfsbereit, ich
bekommemein gültiges Zertifikat. Dochdas war erst der Anfang. «Lesen Sie
die auf der Swiss-Websiteveröffentlichten «Einreisebestimmungen». Mache
ich natürlich – Infoflut. «Füllen Sie dasPLF-Formularaus»(PLF für «Passenger
Locator Form»). Das mache ich geduldig. Undbekommeeinen weiteren QR-
Code – mein ganz persönlicher Sesam-öffne-dichfür denFlug nach Athen.
Weiter geht’s:«Laden Sie die VisitGreece-App herunter. Lesen Sie die
Anweisungen. Füllen Sie die Formulare der griechischen Regierung aus.»
zusätzlichzum «PassengerLocation Form»auch das «Health Statement
Form». Algorithmen sindzwar schönundgut, aber sie verstehenkeinen
Spass:Castagnémit oder ohneAkzent? Ehenameoder nicht? Zweiter
Vorname odernicht? Françoise, mit «c» oderdoch mit «ç»? Wer vonden
festgelegten Formenabweicht, erntet eine Flutvonroten Ausrufezeichen auf
dem Bildschirm – undmuss vonvorne beginnen.
Jetzt besucheich dasUnternehmen, dessenFähremich auf die Insel bringt.
«Lesen Sie die Anweisungen.» Auf Englisch oderauf Griechisch. Andere
Sprachenkenntder Algorithmus nicht. Scrolling, scrolling, Seite um Seite rollt
über meinen Bildschirm. «Füllen Sie den Fragebogen"Gesundheitsfragebogen
für das Preboarding vorder Aufnahme" aus.»Aha. Geht leider nicht online.
Also drucke ich das Formularaus, fülle die InformationenvonHandein,
konzentrieremich auf «é» und«ç»…
Offline ist gesund
Auf der Insel gibtes nurwenige Zeitungen. Ich habe den «Canard Enchaîné»
gefunden, kaufe ihn seit Jahren zumersten Mal wieder. Eine Satirezeitung,
aber eigentlich eine Gesundheitszeitung, dennsiebringt mich zumLachen.
Denn lachen ist bekanntlichgesund. Dochganz kannich nicht vonOnline
lassen: Ein kurzerBlick auf die Apps von«Watson» und«franceinfo» muss
trotzdemsein.
Mit Hervé Le Tellier (Prix Goncourt) undChuck Palahniuks «Festivalde la
couille» bin ich lesetechnisch bestens ausgerüstet. Wennich gerade nicht
lese, mache ich lange Spaziergänge(die Insel ist praktischverkehrsfrei,
Transporteerfolgen per Maultier oder Wassertaxi) oder schwimme im Meer.
Letzteres am frühen Morgen, wenn dasWasser glasklar ist unddie anderen
Touristennoch schlafen.
Mittagessenim Schattender hohenPinienbäume. Gegrillter Tintenfisch,
Zucchini undTarama. Ich weiss mein Glück zu schätzen – und geniesse es. Ich
3. denke anmeinen Mann, der in Zürich einen Videocall an den anderen hängt,
an meine französischenFreunde, die gleich nach dem Aufstehen auf ihre
Wetter-Appschauen, dannauf dengrauen Himmel, dannauf ihre Wetter-App
für die nächstenTage – undsich fragen, ob sie sich wohl ein Rezept gegen
Depressionenverschreiben lassenwollen.
Ich logge mich aus – , und es fühlt sich grossartigan.
BRUTALE RÜCKKEHR
IN DIE REALITÄT
Leider vergehen die Ferientage im Flug. Ich bin in Athen, trinke um 8 Uhr
morgenseinen Kaffee bei 30 °C im Schatten. Check-inin der Swiss-App. Auf
dem Weg zumFlughafen dichte Rauchwolkenim Nordender Stadt. Helikopter
knattern. DasLand brennt.
Mein Flug ist verspätet. ZumGlück, denn mir fehlt mir ein Dokument. Ich
habe doch alles richtig gemacht!... Dochmeine Unterlagen sindfür die
Griechen; ich brauche dasGleiche für die Schweizer. Also QR am Check-in-
Schalter fotografieren, Formularauf meinem iPhoneausfüllen, abschicken
undbeten – endlich wird der QR-Codefür die Bordkarteangezeigt. Umin den
Abflugbereich zu gelangen, mussich den QR-Codevorweisen;vor dem
Boardingwird der QR-Codeder Covid-Cert-App verlangt.
Beim Einsteigen überreicht mir die Flight Attendantein Desinfektionstuch.
Damit desinfiziere ich meine Hände, dannden Tabletttischund die
Armlehnen. Endlich sitze ich in meinem Airbus A321 – Reihe 23 gleich bei den
Toiletten. Kein Problem – meine Maskebedecktsowieso MundUNDNase.
Landungam FlughafenZürich. Wasgibt’s Neues?Will ich das wirklich wissen?
– Ichwarte nochein wenig, bevorich mich wieder einlogge…
Sylvie Castagné
Zürich, 4. August2021